LYRIK VON MEB IN DEUTSCHER ÜBERSETZUNG

WASSERHÄUSER
           

1      [celimar]

die Gewissheit des Meeres hinter ihren Schultern
zeichnete ihr Profil

die kleine Einzelgängerin hört nicht auf
jede Straßenecke zu belagern

ihr Hinterhalt ist der Park oder der Rasen

beflügelt vergisst sie die Angst und die Zeit
bis sie die Abendbrise weckt

geschwind, wie von einem Gespenst erschreckt
radelt sie dem Meer entgegen

2      [güira de melena/cajío]

in dem einen                                                 
beklagte der Jüngling tremolierend
das Los der französischen Könige
Mazurkas entlockte er
dem verstimmten Piano

ich hörte ihn

                        in dem anderen                                 
richtete der Jüngling mit nacktem Torso
die Boote her, und alles zum Fischfang
rief die Männer zusammen

er ging fort mit ihnen

und dann das Baden im Meer, dieser trüben Brühe
von Tante oder Großmutter gezwungen,
oder den Großtanten

und sie, wo war sie?

durchsichtiges Wasser, Tränen und Schlamm
besaßen die Haut des Mädchens


3 [la víbora] *)

in jenem Klima sind die verfliesten Bäder
ein grünes Trommelfell
ein gotischer Albtraum

die irre Phantasie zuckt
zwischen der Scham
und dem Schampon in den Augen

oben am Fenster
lockt die Blüte des Flammenbaums
Insekten, sie finden
zwischen meinen Zehen
unter der Dusche den Tod

und tauchen des Nachts wieder auf
in einem Schrei

 *) La Víbora: traditionelles Wohnviertel in Havanna


4 [playa albina] *)

zwischen der Tinte des Kanals
und den türkisen Wassern
verzehrtest du dich
sehr fern von jenem Meer
                                   Goldschmied der Träume
als sich an diesem Strand
deine Liebe zum Ungreifbaren
erfüllte

 *) „Playa albina“ (weißer Strand) nennt der Exilkubaner Lorenzo García Vega die Stadt Miami.


Aus Wilde Lohe (Klagenfurt, Wieser Verlag, 2007)
© María Elena Blanco
Deutsche Übersetzung von Wolfgang Ratz



WIEN, PALMSONNTAG

La Víbora ist dem Himmel näher.
Wie die Storchenhorste von Rust, höherragende Kronen
als die hängenden Nester der Schwalben,
höfisch, würdig einer göttlichen Säuglingsfabrik.
Immer sagte man, die Störche kämen aus Paris
doch ich weiß, sie stammen aus Rust,
an der Grenze jenes altehrwürdigen Reiches,
am Ufer eines Sees voller Schilf und Mücken,
flachem Wasser.
Dennoch,
auch hier gibt es einen Ort
wo es hinter einem Glastor
nach Kuba riecht,
wo Luft, Licht und Erde
Kuba sind,
also
Wasser.
Um in den Himmel zu kommen: La Víbora,
magischer Kreis,
ara coelis
gebildet von den Säulen seiner Häuser
wie für den Reigen aufgestellt.
Durch einen der Seitenbögen der Kirche der Passionisten
trete ich ein, auf Zehenspitzen,
verstohlen blicke ich mich um
(ob jemand da ist,
er oder ein anderer,
die junge Blonde mit Messbuch und Stöckelschuhen,
irgendeine fromme Freundin der Tanten)    
und erst dann
wähle ich diesen oder jenen Stuhl.
Dort an der weichen Flanke der Kirche verschmilzt
der mächtige Lichtstrahl aus Gottes Auge
mit den Sonnenstrahlen
der Straße von Vista Alegre.
Doch mein Messbuch habe ich in Buenos Aires,
das mit dem Goldschnitt und den roten Worten auf Latein
und einem zarten Weihrauchduft
der bereits von
wahren und raren gotischen Domen kündet.
Hier im Palmenhause Österreich riecht es nach Kuba.
Die Säulen durchschreiten, die geheime Türe.
Durch das Hauptschiff ins Freie:
der Pater wird dir bestätigen,
mit dem heiligen Losungswort,
dass du wirklich
in den Himmel gekommen bist.


BEOBACHTET IN VENEDIG VON MARY McCARTHY

          The rationalist mind has always had its doubts about Venice.
            Mary McCarthy, Venice Observed
                                                                                 

Wie in einer Geheimschrift, die erst im angestammten Feuer von
La Fenice sichtbar wird, lesen wir die Regeln dieses neuen Spiels.
Erste Schlussfolgerung: wir befinden uns in der falschen Stadt. Die
Serenissima hat keine Geduld mit Verliebten, sie zieht das Abenteuer
vor, den Theaterdonner, das schillernde Kleid der Verführung:
Liebende, die sich verfolgen und fliehen, Brände und Brandschatzungen
der Seele (Byron, ein Leben in Flammen, Casanova virtuoso, der
die Zeit unterschlägt). Doch auch dies mag vielleicht eine Chimäre sein,
und die Stadt, die hinter geschlossenen Höfen und Mauerspalten
entweicht, ist eine andere.
                                                                                  Die Stadt,
der Blendung weist uns ab und treibt uns in die breiten Brokate der
Gardinen zurück, in das feine ägyptische Leinen der Laken. Das dunkle
und kühle Bett verspricht uns eine stumme Leidenschaft und ein Erwachen
im Einklang mit einem anderen Venedig, dem unbeweglich abwartenden.
Jenem des steten Erstaunens und des ausweichenden Blicks, das tiefer
schürft als die Patina der Berührung, das unter die Haut geht, jenem der
ahnungsvollen Idylle, jenem, das sich auf Giorgiones Gemälden entblößt
und im Angesicht des Zweifels, des horror vacui erscheint. Zweite 
Schlussfolgerung: jenes ist das eure.

Aus danubiomediterráneo/mittelmeerdonau
(Labyrinth, Wien 2005)
© María Elena Blanco

Deutsche Übersetzung von Wolfgang Ratz